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Untersuchungsbericht des Europaparlaments Frontex wusste von Menschenrechtsverletzungen – und tat nichts

Monatelang haben EU-Parlamentarierinnen und Parlamentarier SPIEGEL-Enthüllungen zu illegalen Pushbacks von Flüchtlingen in der Ägäis untersucht. Der Bericht ist eine Abrechnung mit Frontex-Direktor Leggeri – er soll belastendes Material vernichtet haben.
Flüchtlingsboot in der Ägäis, begleitet von einem Frontex-Schiff

Flüchtlingsboot in der Ägäis, begleitet von einem Frontex-Schiff

Foto:

Michael Varaklas / AP

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Der europäischen Grenzschutzagentur Frontex lagen Beweise für mutmaßlich illegale Pushbacks durch griechische Grenzschützer vor, die Agentur hat es jedoch »versäumt, die Grundrechtsverletzungen anzusprechen und zu verhindern«. Das ist das Ergebnis einer monatelangen Untersuchung des Europaparlaments.

Eine Prüfgruppe unter Beteiligung aller Fraktionen hat untersucht, was Frontex von den illegalen Pushbacks von Flüchtlingsbooten in der Ägäis wusste – und ob Frontex-Chef Fabrice Leggeri angemessen auf die Rechtsbrüche reagiert hat. Der Bericht der Arbeitsgruppe, den der SPIEGEL vorab einsehen konnte, liest sich wie eine Abrechnung mit Leggeri. Er zeichnet das Bild eines Direktors, der sich für die Einhaltung von Menschenrechten an den EU-Außengrenzen kaum interessiert und alles tut, um Verstöße zu vertuschen. Auf 17 Seiten listen die Abgeordneten seine Verfehlungen auf.

Leggeri ignorierte sämtliche Hinweise

Frontex habe öffentliche Berichte über Menschenrechtsverletzungen an den EU-Grenzen generell abgetan, heißt es im Report. Auch auf interne Informationen über mutmaßliche Rechtsbrüche habe die Agentur nicht angemessen reagiert. Leggeri ignoriere die Stellungnahmen und Anfragen seiner Grundrechtsbeauftragten und des sogenannten Konsultativforums. Diese sollen eigentlich dafür sorgen, dass die Agentur die Rechte von Asylsuchenden achtet.

Trotz zahlreicher Berichte über mutmaßliche Rechtsbrüche in der Ägäis habe Leggeri nie umfassend erwogen, den Frontex-Einsatz zu beenden, oder überlegt, wie er die Menschenrechtsverletzungen verhindern könne. »Im Gegenteil, der Exekutivdirektor behauptet weiterhin, dass ihm keine Informationen über Grundrechtsverletzungen bekannt sind«, schreiben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier.

Pushback in der Ägäis: Afghanen auf einer der Rettungsinseln, in denen die griechischen Grenzwächter Menschen aussetzen

Pushback in der Ägäis: Afghanen auf einer der Rettungsinseln, in denen die griechischen Grenzwächter Menschen aussetzen

Foto: Emrah Gurel / AP

Darüber hinaus habe Leggeri das Parlament lange Zeit nicht angemessen informiert. Bei seinen Auftritten im Ausschuss habe der Frontex-Direktor Informationen über einzelne Pushbacks verschwiegen. In mehreren Fällen seien Grenzbeamte davon abgebracht worden, Rechtsbrüche mittels eines sogenannten »Serious Incident Reports« an die Frontex-Führung zu melden. Selbst die Einstellung von 40 Grundrechtsbeobachtern, die die Grenzbeamten kontrollieren sollen, habe Leggeri erheblich verzögert. Sie seien noch immer nicht vollständig rekrutiert.

Frontex machte sich bei Menschenrechtsverletzungen zum Komplizen

Die Untersuchung des Europaparlaments ist eine Reaktion auf Enthüllungen des SPIEGEL. Gemeinsame Recherchen mit den Medienorganisationen Lighthouse Reports, Bellingcat und dem ARD-Magazin »Report Mainz« zeigten, dass Frontex in der Ägäis in illegale Pushbacks verwickelt ist und sich bei griechischen Menschenrechtsverletzungen zum Komplizen gemacht hatte.

Frontex-Beamte, darunter auch deutsche Bundespolizisten, stoppen in der Ägäis Flüchtlingsboote, bevor sie die griechischen Inseln erreichen, und übergeben sie an die griechische Küstenwache. Die Grenzschützer setzen die Geflüchteten anschließend systematisch auf dem Meer aus – entweder auf aufblasbaren Rettungsflößen oder auf Schlauchbooten, in denen sie den Motor entfernt haben. So stellen sie sicher, dass die Flüchtlinge nicht erneut griechische Gewässer erreichen können. Oft wenden die griechischen Beamten bei den Aktionen Gewalt an, stechen auf die Schlauchboote ein oder schießen ins Wasser. Bei mindestens sieben Fällen waren Frontex-Einheiten bei solchen Pushbacks in der Nähe oder in sie verstrickt.

Sonstige / nicht nicht zuzuordnen

In der Nacht vom 18. auf den 19. April zeichnete Frontex aus der Luft auf, wie die griechische Küstenwache Flüchtlinge auf ein Boot ohne Motor setzte und wegfuhr – ein klarer Rechtsverstoß, der die Menschen in Lebensgefahr brachte. Die Aufarbeitung des Pushbacks vom 18. April übernahm Leggeri persönlich. Dem Parlament verschwieg er den Pushback zunächst. Stattdessen stufte er den Vorfall nachträglich so ein, dass die Grundrechtsbeauftragte der Agentur fortan nicht mehr beteiligt war.

Leggeri ließ offenbar belastendes Material vernichten

Einer der brisantesten Vorwürfe im Bericht des Europaparlaments bezieht sich auf den Pushback in jener Nacht. Demnach wies Leggeri die Grundrechtsbeauftragte persönlich an, alle Informationen zu löschen, die sie zu dem Vorfall gesammelt hatte. Nach SPIEGEL-Informationen soll dies aus internen E-Mails hervorgehen, die die Abgeordneten einsehen konnten.

»Fabrice Leggeri hat Beweise für Menschenrechtsverletzungen löschen lassen«, sagte der Grünenabgeordnete Erik Marquardt dem SPIEGEL. Leggeri versuche, Verbrechen zu vertuschen, statt sie aufzuklären. Tineke Strik, die Rapporteurin der Prüfgruppe, sieht das ähnlich. »Die Aktion offenbart, dass Leggeri nicht zögert, seine Macht zu missbrauchen, um die griechische Regierung zu schützen.« Der Vertuschungsversuch sei »entsetzlich«.

Der Bericht ist das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Bis spät am Mittwochabend verhandelten die Parlamentarierinnen und Parlamentarier über die genauen Formulierungen. Die Konservativen bestanden unter anderem auf die Feststellung, dass Frontex die Pushbacks offenbar nicht selbst durchführe, allerdings hatte das auch niemand behauptet.

Der Linken geht der Bericht hingegen nicht weit genug. In der Nacht vom 18. auf den 19. April habe Frontex live bei einem Pushback zugeschaut, sagt die deutsche Abgeordnete Cornelia Ernst. Sie und andere Parlamentarier hätten sich das Video selbst anschauen können. »Leggeri ist dem Job nicht gewachsen, er muss gehen«, sagte die spanische Linken-Abgeordnete Sira Rego. Wenn er nicht zurücktrete, müsse EU-Kommissarin Ylva Johansson dafür sorgen, dass er entlassen werde.

Was der Untersuchungsbericht für Leggeris politische Zukunft bedeutet, ist unklar. Die Parlamentarier pochen in ihrem Bericht darauf, spätestens bei der Verlängerung von Leggeris Vertrag mitreden zu dürfen. Außerdem droht dem Frontex-Chef schon bald neuer Ärger: Auch die Antibetrugsbehörde Olaf ermittelt gegen ihn und sein Führungsteam – und sie ist nicht für politische Kompromisse bekannt.

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