10.08.2022
Image
Ankommende Ortskräfte und Menschenrechtsaktivist*innen aus Afghanistan. Foto: Bundeswehr/ Marc Tessensohn

Eine Studie der FAU Human Rights Clinic in Kooperation mit PRO ASYL zeigt, dass Deutschland seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen zur Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan bislang nicht ausreichend nachkommt. Die Aufnahme ist kein Gnadenakt, sondern Pflicht. Hierfür müsste das Ortskräfteverfahren dringend überarbeitet werden.

Am 15. August 2021 über­nah­men die radi­kal-isla­mi­schen Tali­ban nach zwan­zig Jah­ren erneut die Herr­schaft in Afgha­ni­stan. Zuvor waren die inter­na­tio­na­len Trup­pen – dar­un­ter auch Deutsch­land – ab Mai 2021 über­ra­schend schnell abgezogen.

Zurück blie­ben die Men­schen, die für die west­li­chen Län­der gear­bei­tet haben und die sich in den letz­ten Jah­ren für ein demo­kra­ti­sches Afgha­ni­stan sowie Men­schen- und Frau­en­rech­te ein­ge­setzt haben. Und die nun der Ver­fol­gung und der Will­kür der Tali­ban aus­ge­lie­fert sind.

10 Tage lang – vom 16. bis zum 26. August 2021 – lan­de­ten Flug­zeu­ge der Bun­des­wehr in Kabul, um Deut­sche und soge­nann­te Orts­kräf­te aus­zu­flie­gen und vor der Rache der Tali­ban zu schüt­zen. Nur 5.347 Per­so­nen, davon 138 Orts­kräf­te mit 496 Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen, konn­ten so aus dem Land geholt wer­den. Bis zum Juni 2022 konn­ten laut Aus­sa­gen des Aus­wär­ti­gen Amts über 21.000 Men­schen, die ent­we­der Orts­kräf­te waren oder sich für Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te in Afgha­ni­stan enga­giert haben, das Land ver­las­sen und nach Deutsch­land ein­rei­sen. 10.000 wei­te­re Men­schen mit Auf­nah­me­zu­sa­ge war­ten bis heu­te auf die Aus­rei­se aus Afgha­ni­stan – vie­le wei­te­re gefähr­de­te Men­schen haben eine sol­che bis­lang nicht bekommen.

Problematisches Ortskräfteverfahren – viele saßen in der Falle

Für Men­schen, die für deut­sche Ein­rich­tun­gen tätig waren, gibt es seit 2013 ein soge­nann­tes Orts­kräf­te­ver­fah­ren. Der Ablauf sieht vor, dass die bedroh­te Per­son in  Afgha­ni­stan bei der deut­schen Ein­rich­tung, für die sie arbei­tet, eine Gefähr­dungs­an­zei­ge stellt. Der Arbeit­ge­ber gibt die­se zur Prü­fung an die zustän­di­gen Mit­ar­bei­ten­den im ent­spre­chen­den Minis­te­ri­um wei­ter – je nach Tätig­keit kön­nen das das Aus­wär­ti­ges Amt (AA), das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit und Ent­wick­lung (BMZ) oder das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um (BMI) sein. Die­se prü­fen die Gefähr­dung und reicht sie, wenn sie die­se bestä­ti­gen kann, an das BMI wei­ter, dass dann eine Auf­nah­me­zu­sa­ge erteilt. Nach der Ertei­lung der Auf­nah­me­zu­sa­ge durch das BMI kön­nen die Antragsteller*in ein Visum bean­tra­gen – wofür sie es aber schaf­fen müs­sen, Afgha­ni­stan zu ver­las­sen und zu einer deut­schen Bot­schaft zu kom­men. Dies ist seit der Macht­über­nah­me äußerst schwie­rig geworden.

Trotz ent­spre­chen­der War­nun­gen aus der Zivil­ge­sell­schaft waren die Ver­fah­ren zu lang­sam, um vor der Macht­über­nah­me der Tali­ban den meis­ten Orts­kräf­ten einen Weg raus aus Afgha­ni­stan zu ermög­li­chen. Statt­des­sen saßen sie in der Fal­le, konn­ten sie doch das Land wäh­rend dem lau­fen­den Ver­fah­ren nicht ver­las­sen, ohne die Chan­ce auf Auf­nah­me nach Deutsch­land zu verlieren.

Wäh­rend der gesam­ten Dau­er des Afgha­ni­stan-Ein­sat­zes arbei­te­ten die Bun­des­wehr und sons­ti­ge betei­lig­te deut­sche Minis­te­ri­en – wie das AA, das BMZ und das BMI – eng mit Afghan*innen vor Ort zusam­men. Die­se für deut­sche Insti­tu­tio­nen arbei­ten­den Per­so­nen wer­den als Orts­kräf­te bezeich­net. Sie wur­den in unter­schied­li­chen Berei­chen, Pro­jek­ten und Funk­tio­nen beschäf­tigt, wie bei­spiels­wei­se für Sprach­mitt­lung, für Bewa­chung und Siche­rung mili­tä­ri­scher Stütz­punk­te und Gebäu­de deut­scher Insti­tu­tio­nen sowie für die Logis­tik und Auf­recht­erhal­tung der Infra­struk­tur, die für den Ein­satz not­wen­dig war. Orts­kräf­te stell­ten ein wich­ti­ges Bin­de­glied und Sprach­rohr zwi­schen den deut­schen Insti­tu­tio­nen und der loka­len Zivil­ge­sell­schaft dar. Sie ermög­lich­ten es, die sprach­li­chen Bar­rie­ren zu über­win­den und ver­mit­tel­ten den deut­schen Mit­ar­bei­ten­den ent­spre­chen­des Wis­sen über loka­le, reli­giö­se und kul­tu­rel­le Zusam­men­hän­ge. Da deut­sche Soldat*innen in der Regel nur vier bis sechs Mona­te in Afgha­ni­stan ein­ge­setzt waren, fun­gier­ten die Orts­kräf­te als Brü­cke zwi­schen den stän­dig wech­seln­den deut­schen Soldat*innen. Ohne die Beschäf­ti­gung von Orts­kräf­ten wäre der deut­sche Mili­tär­ein­satz undenk­bar gewesen.

Auf­grund ihrer Tätig­keit wur­den und wer­den (ehe­ma­li­ge) Orts­kräf­te und Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge durch die Tali­ban bedroht und ver­folgt. Die Bedro­hun­gen rei­chen dabei von Ein­schüch­te­run­gen, gewalt­tä­ti­gen Über­grif­fen und geziel­ten Anschlä­gen über Ent­füh­run­gen, Fol­ter, Haus­durch­su­chun­gen bei Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen oder (ehe­ma­li­gen) Wohn­or­ten der Orts­kräf­te, schrift­li­chen oder tele­fo­ni­schen (Mord-)Drohungen bis hin zur tat­säch­li­chen Ermor­dung von Ortskräften.

Die in Afgha­ni­stan täti­gen Bun­des­res­sorts einig­ten sich auf­grund der Gefähr­dung afgha­ni­scher Orts­kräf­te auf ein gemein­sa­mes Ver­fah­ren zur Auf­nah­me, das auf Grund­la­ge des § 22 Satz 2 Auf­enthG durch­ge­führt wird. Die­ses im Jahr 2013 ein­ge­führ­te Ver­fah­ren wird im all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch als Orts­kräf­te­ver­fah­ren bezeich­net. Es han­delt sich dabei um poli­ti­sche Abspra­chen der betei­lig­ten Res­sorts, die seit­dem die Zustän­dig­kei­ten, Abläu­fe und Gefähr­dungs­kri­te­ri­en für eine Auf­nah­me­zu­sa­ge im Sin­ne des § 22 Satz 2 Auf­enthG regeln.

Vie­le Orts­kräf­te wur­den in Afgha­ni­stan schutz­los zurück­ge­las­sen oder tra­fen im Ver­fah­ren auf Hür­den, die eine Auf­nah­me deut­lich ver­zö­ger­ten, die sie in zusätz­li­che Gefah­ren brach­ten, oder die zu einer Ver­sa­gung von Schutz führ­ten. Die Pro­ble­me, mit denen gefähr­de­te Orts­kräf­te im Ver­fah­ren kon­fron­tiert waren und immer noch sind, sind den poli­ti­schen Entscheidungsträger*innen bekannt. Zivil­ge­sell­schaft­li­che Akteur*innen, Politiker*innen sowie betrof­fe­ne Orts­kräf­te haben in den letz­ten Jah­ren immer wie­der dar­auf hin­ge­wie­sen. Bei­spiels­wei­se pro­tes­tier­ten 2018 Orts­kräf­te vor dem Camp Mar­mal in Masar‑e Scha­rif, um auf die unzu­rei­chen­de Auf­nah­me­pra­xis und Pro­ble­me im Ver­fah­ren auf­merk­sam zu machen. Bereits Mona­te vor dem end­gül­ti­gen Abzug im Som­mer 2021 mach­ten NGOs wie PRO ASYL auf die sich zuneh­mend pre­kä­re und sich zuspit­zen­de Lage in Afgha­ni­stan ins­be­son­de­re für Orts­kräf­te auf­merk­sam und for­der­ten die dama­li­ge Regie­rung auf, das Orts­kräf­te­ver­fah­ren zu reformieren.

Zu den Hauptproblemen des Verfahrens gehören:

Wer als Orts­kraft im Sin­ne des Orts­kräf­te­ver­fah­rens zu ver­ste­hen ist und Zugang zum Ver­fah­ren hat, wur­de von den betei­lig­ten Bun­des­res­sorts (will­kür­lich) fest­ge­legt. Als maß­geb­li­che Ele­men­te, die eine Orts­kraft im Sin­ne des Orts­kräf­te­ver­fah­ren defi­nie­ren, wird auf Dau­er und Zeit­raum des Arbeits­ver­hält­nis­ses abge­stellt (hier­für galt bis zum Som­mer 2021 eine Zwei­jah­res­frist, mitt­ler­wei­le wer­den Tätig­kei­ten ab 2013 aner­kannt) sowie die Art des Arbeits­ver­trags. Die­se enge Defi­ni­ti­on von Orts­kräf­ten führt in der Pra­xis dazu, dass bei­spiels­wei­se Per­so­nen, die für deut­sche Minis­te­ri­en in Form eines Hono­rar­ver­trags oder über Sub­un­ter­neh­mer beschäf­tigt waren, trotz ihrer Tätig­keit für deut­sche Stel­len und einer Gefähr­dung durch die Tali­ban kei­nen Zugang zum Orts­kräf­te­ver­fah­ren erhalten

Die Kri­te­ri­en, nach denen die Gefähr­dungs­si­tua­ti­on bewer­tet wird und die aus­schlag­ge­bend für die Ertei­lung einer Auf­nah­me­zu­sa­ge sind, wer­den als Ver­schluss­sa­che geheim gehal­ten. Ände­run­gen der Kri­te­ri­en wer­den von Politiker*innen beschlos­sen und sind für die Öffent­lich­keit sowie für die betrof­fe­nen Orts­kräf­te schwer nach­voll­zieh­bar und nur bedingt vorhersehbar.

Auch das Ver­fah­ren selbst, das sich oft­mals über einen län­ge­ren Zeit­raum zieht, ist ins­ge­samt intrans­pa­rent. So berich­te­ten die für die Stu­die befrag­ten Per­so­nen, die Orts­kräf­te bei der Aus­rei­se unter­stütz­ten oder selbst betrof­fen waren, dass sie kei­ne (gesi­cher­ten) Infor­ma­tio­nen über den Ver­fah­rens­stand erhiel­ten. Infor­ma­tio­nen über den Ver­fah­rens­stand konn­ten oft­mals nur durch mehr­fach hart­nä­cki­ges Nach­fra­gen und über ent­spre­chen­de Kon­tak­te zu Politiker*innen oder Mit­ar­bei­ten­den inner­halb der Behör­den erreicht wer­den. Dadurch war für die Betrof­fe­nen unklar wie sie sich in der lebens­be­dro­hen­den Situa­ti­on ver­hal­ten soll­ten. Zudem man­gel­te es an Infor­ma­tio­nen über Abläu­fe und Zustän­dig­kei­ten für gefähr­de­te Ortskräfte.

In den Inter­views, die für die Stu­die mit Unterstützer*innen und ehe­ma­li­gen Orts­kräf­ten geführt wur­den, wur­de dar­über hin­aus deut­lich, dass Orts­kräf­te, die eine Gefähr­dungs­an­zei­ge gestellt haben, dadurch in Situa­tio­nen gebracht wur­den, die ihre Sicher­heits­la­ge zusätz­lich ver­schlech­ter­ten und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten mas­siv ein­schränk­ten. Eini­ge berich­te­ten, dass sie nach dem Stel­len einer Gefähr­dungs­an­zei­ge nicht wei­ter­be­schäf­tigt wur­den. Begrün­det wur­de dies mit den gel­tend gemach­ten Sicher­heits­pro­ble­men und ‑beden­ken. Der Ver­lust des Arbeits­plat­zes bei gleich­zei­ti­ger Unsi­cher­heit und Unwis­sen­heit, ob die Gefähr­dungs­an­zei­ge zu einer Auf­nah­me­zu­sa­ge führt, schreck­te Orts­kräf­te fak­tisch von der Anzei­ge der eige­nen Gefähr­dung ab, so die Aus­sa­ge einer inter­view­ten Person.

Ein wei­te­res Pro­blem war, dass nach Stel­lung der Gefähr­dungs­an­zei­ge kei­ne Aus­rei­se aus Afgha­ni­stan mög­lich war bzw. eine Aus­rei­se aus Afgha­ni­stan dazu führ­te, dass man nicht mehr für das Orts­kräf­te­ver­fah­ren in Fra­ge kam. Das bedeu­tet, dass sich Orts­kräf­te ent­schei­den muss­ten, ob sie, um sich vor­erst in Sicher­heit zu brin­gen, in ein Nach­bar- oder Dritt­land aus­rei­sen, oder ob sie auf eine Auf­nah­me­ent­schei­dung von Deutsch­land war­ten. Die­se Pra­xis änder­te sich zwar nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban – vie­le Orts­kräf­te saßen da aber schon in der Falle.

Voll­jäh­ri­ge Kin­der sowie ande­re abhän­gi­ge oder gefähr­de­te Ver­wand­te, die im Haus­halt der Orts­kraft leb­ten, fal­len nicht unter die Defi­ni­ti­on der »Kern­fa­mi­lie« und sind von einer Auf­nah­me in der Regel aus­ge­schlos­sen. Dies steht im Wider­spruch zum Ver­ständ­nis von Fami­lie in Afgha­ni­stan und zu der Lebens­rea­li­tät der Per­so­nen, die auf­grund der Tätig­keit ihrer Eltern oder sons­ti­ger Ver­wand­te durch die Tali­ban gefähr­det sind. Kon­tex­tua­li­sier­te Ent­schei­dun­gen, die das Fami­li­en­ver­ständ­nis in Afgha­ni­stan berück­sich­ti­gen und der Gefähr­dung von Fami­li­en­mit­glie­dern gerecht gewor­den wären, wur­den durch die deut­schen Behör­den nicht aus­rei­chend getrof­fen. Statt­des­sen wur­den Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge einer Orts­kraft, die eben­so gefähr­det waren, auf­grund for­ma­ler Kri­te­ri­en von einer Auf­nah­me aus­ge­schlos­sen. Dies führ­te laut eini­ger, Interviewpartner*innen dazu, dass erwach­se­ne Kin­der zurück­ge­las­sen wer­den muss­ten, die nun einer Bedro­hung durch die Tali­ban aus­ge­setzt sind und stell­ver­tre­tend Rache befürch­ten müssen.

Die all­ge­mei­ne Auf­fas­sung in der Lite­ra­tur und Recht­spre­chung geht davon aus, dass wenn das BMI kei­ne Auf­nah­me­zu­sa­ge erteilt hat, der § 22 Satz 2 Auf­enthG in der Regel kei­nen Anspruch auf Auf­nah­me begrün­det, son­dern viel­mehr den Behör­den Hand­lungs­be­fug­nis­se ein­räumt, ohne im Regel­fall eine recht­li­che Bin­dung zu eta­blie­ren. Erst durch die Zusa­ge des BMI nach § 22 Satz 2 Auf­enthG steht dem Adres­sa­ten ein Anspruch auf Ertei­lung einer Auf­ent­halts­er­laub­nis durch die Aus­län­der­be­hör­de zu. Ob »poli­ti­sche Inter­es­sen« vor­lie­gen, die eine Auf­nah­me begrün­den, sei dem Bund vor­be­hal­ten und die­ne ins­be­son­de­re der Wah­rung des außen­po­li­ti­schen Hand­lungs­spiel­raums. Aller­dings wird hier, zumin­dest in der Theo­rie, eine Gren­ze durch das Will­kür­ver­bot und die Anfor­de­run­gen der Arti­kel 3 Absatz 1 (»Alle Men­schen sind vor dem Gesetz gleich.«) und Arti­kel 19 Absatz 4 GG (»Wird jemand durch die öffent­li­che Gewalt in sei­nen Rech­ten ver­letzt, so steht ihm der Rechts­weg offen [..].«) gezogen.

Zwar wird die­se Ent­schei­dung von den zustän­di­gen Gerich­ten als grund­sätz­lich über­prüf­bar ange­se­hen. Jedoch ist die­ses Ermes­sen so weit gefasst, dass letzt­end­lich kaum eine wirk­lich brauch­ba­re gericht­li­che Über­prü­fung statt­fin­det, oder nur zumin­dest eine, in der poten­ti­el­le Schutz­pflich­ten kei­ne Rol­le spie­len. Die Gerich­te fol­gen letzt­lich der Auf­fas­sung der Behör­den, dass es sich bei der Auf­nah­me von Orts­kräf­ten um eine poli­ti­sche Ent­schei­dung han­delt und kei­ne recht­li­che Ver­pflich­tung besteht.

Menschenrechtliche Prüfung ergibt: Pflicht zur Aufnahme besteht

Die in Koope­ra­ti­on mit PRO ASYL ent­stan­de­ne grund- und men­schen­recht­li­che Expert Opi­ni­on der Human Rights Cli­nic der Fried­rich-Alex­an­der-Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg zeigt, dass Deutsch­land sei­nen men­schen­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen für die­se Men­schen nicht aus­rei­chend nach­kommt. Staa­ten sind nicht nur ver­pflich­tet, die Men­schen­rech­te ein­zu­hal­ten, son­dern auch grund­sätz­lich ver­pflich­tet, Men­schen vor Über­grif­fen auf ihre Grund- oder Men­schen­rech­te durch Drit­te zu schüt­zen (soge­nann­te Schutz­pflich­ten) – auch ein Unter­las­sen kann eine Men­schen­rechts­ver­let­zung sein. Anknüp­fungs­punkt für men­schen­recht­li­che Schutz­pflich­ten ist grund­sätz­lich die Aus­übung von Hoheits­ge­walt. Im eige­nen Staats­ge­biet wird die­se für das Land stets ange­nom­men. Wird Hoheits­ge­walt aber außer­halb des eige­nen Ter­ri­to­ri­ums aus­ge­übt – zum Bei­spiel bei mili­tä­ri­schen Ein­sät­zen, auf Schif­fen der Küs­ten­wa­che oder in Bot­schaf­ten –, bestehen auch hier men­schen­recht­li­che Ver­pflich­tun­gen (soge­nann­te »extra­ter­ri­to­ria­le Schutzpflichten«).

In der Expert Opi­ni­on wird anhand eines Bei­spiels­falls geprüft, ob Deutsch­land men­schen­recht­li­che Schutz­pflich­ten für eine afgha­ni­sche Lehr­kraft haben kann, die im Rah­men des soge­nann­ten Poli­ce Coope­ra­ti­on Pro­jects, das über die bun­des­ei­ge­ne Gesell­schaft für Inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit (GIZ) läuft, bei einer loka­len NGO ange­stellt ist. Die FAU Human Rights Cli­nic unter­sucht hier­für die Vor­aus­set­zun­gen nach dem Grund­ge­setz, der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on sowie dem Inter­na­tio­na­len Pakt über bür­ger­li­che und poli­ti­sche Rech­te (auch UN-Zivil­pakt genannt) – und stellt für alle drei Rechts­quel­len fest, dass eine grund- bzw. men­schen­recht­li­che Schutz­pflicht besteht. Die men­schen­recht­li­che Ver­ant­wor­tung ent­steht ins­be­son­de­re unab­hän­gig von der deut­schen Defi­ni­ti­on von Orts­kräf­ten und umfasst alle Men­schen, bei denen eine hin­rei­chen­de Ver­bin­dung zu Deutsch­land ent­stan­den ist und für die des­we­gen eine Gefähr­dung besteht.

Das bis­her bestehen­de Ver­fah­ren nach dem § 22 Satz 2 Auf­ent­halts­ge­setz (Auf­enthG) wird die­ser men­schen­recht­li­chen Ver­pflich­tung aller­dings nicht gerecht, da es als rein »poli­ti­scher Wil­le« oder »huma­ni­tä­rer Akt« ver­stan­den wird und sich selbst Gerich­te aus einer Über­prü­fung raus­hal­ten. Es geht aber um Rech­te, die die betrof­fe­nen Men­schen haben und um dar­aus resul­tie­ren­de Ansprü­che auf eine Aufnahme.

Reform des Ortskräfteverfahrens ist dringend notwendig

Wie die Expert Opi­ni­on zeigt, ist das aktu­el­le Ver­fah­ren zur Auf­nah­me von Orts­kräf­ten – bzw. von Men­schen, für die Deutsch­land eine men­schen­recht­li­che Schutz­pflicht hat – drin­gend reform­be­dürf­tig. Im Koali­ti­ons­ver­trag von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP ist eine sol­che Reform auch vereinbart:

»Wir wer­den unse­re Ver­bün­de­ten nicht zurück­las­sen. Wir wol­len die­je­ni­gen beson­ders schüt­zen, die der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land im Aus­land als Part­ner zur Sei­te stan­den und sich für Demo­kra­tie und gesell­schaft­li­che Wei­ter­ent­wick­lung ein­ge­setzt haben. Des­we­gen wer­den wir das Orts­kräf­te­ver­fah­ren so refor­mie­ren, dass gefähr­de­te Orts­kräf­te und ihre engs­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen durch unbü­ro­kra­ti­sche Ver­fah­ren in Sicher­heit kommen.«

Eine sol­che Reform muss nicht nur zu schnel­len und trans­pa­ren­ten Ver­fah­ren füh­ren, son­dern auch der grund- und men­schen­recht­li­chen Ver­pflich­tung Deutsch­lands ent­spre­chen. Hier­für schla­gen die Verfasser*innen der Expert Opi­ni­on zwei Optio­nen vor:

  • Neue Anspruchs­grund­la­ge zur Auf­nah­me bei men­schen­recht­li­cher Schutz­pflicht: Wie die Expert Opi­ni­on zeigt ist der § 22 Satz 2 Auf­enthG eigent­lich kei­ne pas­sen­de Auf­nah­me­norm, da sie so gestal­tet ist, dass die Auf­nah­me kom­plett im Ermes­sen der Regie­rung liegt. Dies führt auch dazu, dass es kaum zu einer wirk­sa­men recht­li­chen Kon­trol­le durch die Gerich­te kommt.
    Ent­spre­chend emp­fiehlt die Human Rights Cli­nic, im Rah­men einer Reform eine neue Anspruchs­grund­la­ge zu schaf­fen, die auch wirk­sam vor Gericht ein­klag­bar ist.
  • Men­schen­rechts­kon­for­me Anwen­dung des § 22 Satz 2 Auf­enthG: Solan­ge es eine sol­che Anspruchs­grund­la­ge nicht gibt, muss der § 22 Satz 2 Auf­enthG grund- und men­schen­rechts­kon­form ange­wen­det wer­den. Bestehen­de Schutz­pflich­ten müs­sen ent­spre­chend bei des­sen Anwen­dung beach­tet wer­den. Für eine Orts­kraft, über deren Auf­nah­me­zu­sa­ge gem. § 22 Satz 2 Auf­enthG ent­schie­den wird, bedeu­tet das in der Kon­se­quenz eine Über­prü­fung dahin­ge­hend, ob eine Son­der­be­zie­hung zwi­schen Deutsch­land und der Orts­kraft vor­liegt und ob eine men­schen­recht­li­che Gefähr­dungs­la­ge (ins­be­son­de­re für die kör­per­li­che Unver­sehrt­heit oder das Leben der Per­son) vor­liegt. Ist das der Fall, ist die ein­zi­ge Ent­schei­dungs­mög­lich­keit, die dem BMI bleibt, eine Auf­nah­me­zu­sa­ge zu machen. Damit wür­de sich in die­sen Fäl­len das Ermes­sen des BMI auf Null reduzieren.

PRO ASYL bekräf­tigt basie­rend auf der Stu­die der FAU Human Rights Cli­nic die schon vor Abzug der Bun­des­wehr bestehen­den For­de­rung nach einer not­wen­di­gen Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens. Die men­schen­recht­li­chen Ansprü­che von Orts­kräf­ten und ande­ren Per­so­nen, für die eine Schutz­pflicht ent­stan­den ist, müs­sen hier­bei zwin­gend berück­sich­tigt werden.

(wj)