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Die griechische Anwältin Yiota Massouridou. Foto: privat

Griechenland hat die Türkei für Flüchtlinge aus fünf Ländern zum »sicheren Drittstaat« erklärt. Welche Konsequenzen das hat und warum sie gerichtlich dagegen vorgeht, erklärt die griechische Rechtsanwältin Yiota Massouridou von Refugee Support Aegean im Interview mit PRO ASYL.

Sie haben jüngst vor dem höchs­ten grie­chi­schen Gericht Kla­ge ein­ge­reicht gegen eine grie­chi­sche Minis­te­ri­al­ent­schei­dung. War­um ist das auch für den Rest Euro­pas von Bedeutung?

Weil mit die­ser Ent­schei­dung das Asyl­sys­tem als Gan­zes in Gefahr ist. Ver­sagt die EU beim Schutz von Geflüch­te­ten, kann sie ein­pa­cken als Gemein­schaft, die sich dem Schutz der Men­schen­rech­te ver­schrie­ben hat. Eigent­lich müss­te die EU ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren gegen Grie­chen­land einleiten.

Was ist das Pro­blem an die­ser Ministerialentscheidung? 

Am 7. Juni ver­ab­schie­de­te die grie­chi­sche Regie­rung den Gemein­sa­men Minis­te­ri­al­be­schluss (42799/2021), der die Tür­kei zu einem siche­ren Dritt­staat für Asylbewerber*innen aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Soma­lia, Paki­stan und Ban­gla­desch erklärt. Das bedeu­tet, dass die­se Men­schen de fac­to kei­ne Mög­lich­keit mehr haben, in Grie­chen­land Asyl zu bean­tra­gen, weil sie gar nicht nach ihren Flucht­grün­den befragt wer­den, son­dern nur nach einem vor­he­ri­gen Auf­ent­halt in der Tür­kei. Dort­hin wer­den sie dann zurück­ge­schickt, ohne dass eine inhalt­li­che Prü­fung ihres Asyl­be­geh­rens statt­fin­det. Das ist aus meh­re­ren Grün­den völ­lig unverantwortlich.

Wel­che Grün­de sind das? 

Die Tür­kei ist der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on mit Ein­schrän­kun­gen bei­getre­ten, sie gilt dort nur für Europäer*innen. Men­schen aus den oben genann­ten fünf Län­dern müs­sen befürch­ten, von der Tür­kei in ihre Her­kunfts­län­der zurück­ge­schickt zu wer­den. Sol­che ille­ga­len Zurück­wei­sun­gen nach Afgha­ni­stan und Syri­en sind bekannt. Und ver­ges­sen Sie nicht: Unter den Geflüch­te­ten sind zum Bei­spiel syri­sche Kurd*innen, die vor dem tür­ki­schen Bom­bar­de­ment in ihrer Hei­mat geflo­hen sind – und die Euro­pa nun aus­ge­rech­net in die Tür­kei zurück­schickt. Hin­zu kommt ein Paradoxon.

»Unter den Geflüch­te­ten sind zum Bei­spiel syri­sche Kurd*innen, die vor dem tür­ki­schen Bom­bar­de­ment in ihrer Hei­mat geflo­hen sind – und die Euro­pa nun aus­ge­rech­net in die Tür­kei zurückschickt.«

Näm­lich?

In den ver­gan­ge­nen Jah­ren hat sich die men­schen­recht­li­che Lage in der Tür­kei bekann­ter­ma­ßen extrem ver­schlech­tert. Nicht umsonst stel­len der­zeit vie­le Tür­kin­nen und Tür­ken in EU-Län­dern einen Asyl­an­trag, der oft posi­tiv beschie­den wird. Das ist absurd: Auf der einen Sei­te nimmt die EU tür­ki­sche Flücht­lin­ge auf, weil die Lage in deren Hei­mat eben alles ande­re als sicher ist, auf der ande­ren Sei­te schickt sie Schutz­su­chen­de aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Soma­lia, Paki­stan und Ban­gla­desch in die Tür­kei zurück mit der Begrün­dung, es sei dort sicher.

Passt Euro­pa sei­ne Geset­ze so an, wie es gera­de poli­tisch oppor­tun ist?

Ja, es wird deut­lich: Die Minis­te­ri­al­ent­schei­dung Grie­chen­lands ist eine lega­le Krü­cke, um poli­ti­sche Inter­es­sen durch­zu­set­zen. Asylbewerber*innen die­ser fünf Natio­na­li­tä­ten stel­len mehr als 67 Pro­zent aller Asyl­su­chen­den in Grie­chen­land. Wenn sie alle plötz­lich kei­ne Chan­ce mehr haben auf eine inhalt­li­che Über­prü­fung ihrer Anträ­ge, hat Grie­chen­land auf einen Schlag weni­ger Flücht­lin­ge – und somit ganz Euro­pa. Wich­tig ist: Die Ent­schei­dung gilt nicht nur zukünf­tig, son­dern auch rück­wir­kend für alle Men­schen, die bereits im Land sind und schon Asyl­an­trä­ge gestellt haben.

Wer trägt die Ver­ant­wor­tung dafür, der grie­chi­sche Staat oder die EU? 

Sagen wir mal so: Grie­chen­land nimmt die hei­ße Kar­tof­fel, die alle ande­ren fal­len las­sen, in die Hand – und die EU und ihre Mit­glie­der sind froh dar­über. Die Minis­te­ri­al­ent­schei­dung ist natür­lich eine natio­na­le Ange­le­gen­heit, aber Grie­chen­land setzt mit der extrem restrik­ti­ven Asyl­po­li­tik EU-Recht um; den­ken Sie an den EU-Tür­kei-Deal! Zudem gewährt Arti­kel 38 der EU-Richt­li­nie 2013/32 Mit­glied­staa­ten die Mög­lich­keit, fest­zu­le­gen, unter wel­chen Umstän­den Dritt­staa­ten als sicher ein­ge­stuft wer­den dür­fen. Dar­auf beruft sich Grie­chen­land bei sei­ner Minis­te­ri­al­ent­schei­dung, hat aller­dings sämt­li­che Kri­te­ri­en miss­ach­tet. Und die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on tut nichts, aber auch gar nichts, um dage­gen vorzugehen.

Wel­che Kri­te­ri­en wur­den missachtet?

Will ein EU-Mit­glied ein Land zum siche­ren Dritt­staat erklä­ren, müs­sen dafür die Erkennt­nis­se von ver­trau­ens­wür­di­gen, unab­hän­gi­gen und offi­zi­el­len Insti­tu­tio­nen ein­flie­ßen, etwa dem UN-Flücht­lings­hilfs­werk oder der Euro­päi­schen Asyl­be­hör­de EASO. Nun ist es so, dass die grie­chi­sche Regie­rung zunächst über­haupt nicht offen­ge­legt hat, wie sie zu der Ein­schät­zung kommt, dass die Tür­kei für Men­schen aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Soma­lia, Paki­stan und Ban­gla­desch sicher ist. Gegen die­se Geheim­nis­krä­me­rei sind eini­ge Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen gericht­lich vorgegangen.

»Die Minis­te­ri­al­ent­schei­dung beruht auf der »Mei­nung« der grie­chi­schen Asyl­be­hör­de, dass die Tür­kei sicher sei – Schluss, aus. Mehr steht da tat­säch­lich nicht.«

Sie haben Ein­sicht ver­langt, wie Grie­chen­land zu der Ent­schei­dung gelang­te – und gewonnen. 

Ja, und dann stell­te sich her­aus: Die Minis­te­ri­al­ent­schei­dung beruht auf der »Mei­nung« der grie­chi­schen Asyl­be­hör­de, dass die Tür­kei sicher sei – Schluss, aus. Mehr steht da tat­säch­lich nicht. Dabei gibt es einen Bericht von EASO, der zu dem gegen­tei­li­gen Ergeb­nis kommt, näm­lich, dass die Tür­kei nicht sicher ist für Geflüch­te­te! Aber die­sen Bericht hat Grie­chen­land gar nicht abge­ru­fen. Wie die­ser Minis­te­ri­al­be­schluss zustan­de kam, ist daher in dop­pel­ter Hin­sicht empö­rend: ers­tens auf­grund der Intrans­pa­renz und zwei­tens wegen der Miss­ach­tung wis­sen­schaft­li­cher Standards.

Was mei­nen Sie damit? 

Um die poli­tisch gewoll­te Ent­schei­dung »weni­ger Asyl­be­wer­ber« recht­fer­ti­gen zu kön­nen, wur­den alle metho­di­schen Regeln und pro­fes­sio­nel­len Bewer­tungs­maß­stä­be über Bord gewor­fen. Es ist ein gro­ßes Pro­blem, wenn wis­sen­schaft­li­che Stan­dards nicht mehr zäh­len. Wozu das führt, sehen wir in den ver­schwö­rungs­theo­re­ti­schen Dis­kus­sio­nen rund um die Pan­de­mie. Wenn Grie­chen­land in der Migra­ti­ons­po­li­tik wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se igno­riert und das von den ande­ren EU-Staa­ten unwi­der­spro­chen hin­ge­nom­men wird, ist das brand­ge­fähr­lich für die Rechts­staat­lich­keit in Euro­pa als Ganzes.

Sie for­dern nun vor Gericht, dass der Minis­te­ri­al­be­schluss zurück­ge­zo­gen wird. Sind Sie opti­mis­tisch, dass es dazu kom­men wird?

Ehr­lich gesagt nein. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren haben wir häu­fig beob­ach­tet, dass aus ernst zu neh­men­den Rechts­fra­gen poli­ti­sche Spiel­chen wer­den. Die grie­chi­sche Beru­fungs­be­hör­de ent­schied anläss­lich des EU-Tür­kei-Deals, dass die Tür­kei nicht sicher sei. Und was geschah? Im Juli 2016 lös­te die grie­chi­sche Regie­rung die­se Behör­de ein­fach auf und ersetz­te sie durch eine neue. Auch der Gang vor Gericht hilft nicht immer wei­ter. Zwei Flücht­lin­ge aus Syri­en haben 2017 mit­hil­fe von PRO ASYL und Refu­gee Sup­port Aege­an Kla­ge gegen die Zurück­wei­sung in die Tür­kei ein­ge­legt und bis zum Coun­cil of Sta­te geklagt, also dem höchs­ten grie­chi­schen Gericht, an das wir uns auch jetzt gewandt haben. Doch die­sen Fall damals haben wir ver­lo­ren, auch wenn es ganz knapp war. Trotz­dem hof­fe ich, dass das Gericht dies­mal anders ent­schei­den wird, denn die Situa­ti­on in der Tür­kei hat sich seit 2016/17 ja enorm ver­schärft. Mit Opti­mis­mus hat das aber wenig zu tun; als Anwäl­tin sehe ich es als mei­ne Pflicht an, die­se recht­li­chen Kämp­fe auszutragen.

Was wäre für Sie ein idea­les Ergeb­nis, wann las­sen Sie die Sekt­kor­ken knallen? 

Die Minis­te­ri­al­ent­schei­dung muss zurück­ge­zo­gen wer­den. Davon unab­hän­gig müs­sen die EU-Län­der die Rechts­staat­lich­keit wie­der­her­stel­len. Die EU-Kom­mis­si­on muss end­lich ihrer Rol­le als Hüte­rin der Ver­trä­ge gerecht wer­den. Und Euro­pa darf nicht län­ger Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung betrei­ben: die men­schen­recht­lich desas­trö­se Lage in der Tür­kei und ande­ren Län­dern darf weder ver­schlei­ert noch geleug­net wer­den. Ein Bei­spiel: Die Minis­te­ri­al­ent­schei­dung stammt von Juni, also noch bevor die Tali­ban Afgha­ni­stan erobert haben. Das Gericht muss aner­ken­nen, dass wir jetzt eine völ­lig neue Fak­ten­la­ge haben. Nicht zuletzt macht sich auch Deutsch­land mit­schul­dig an dem Rechts­bruch, den Grie­chen­land begeht, wenn es Asyl­su­chen­de in die Tür­kei abschiebt.

»Die­se Ket­ten­ab­schie­bun­gen wider­spre­chen ganz klar dem Völ­ker­recht und gefähr­den das Fun­da­ment des euro­päi­schen Asyl­sys­tems als solches.«

Inwie­fern trägt Deutsch­land hier eine Mitverantwortung?

Stel­len wir uns einen schutz­su­chen­den Soma­li­er vor, der über die Tür­kei nach Grie­chen­land kommt und wei­ter nach Deutsch­land reist, weil er zum Bei­spiel dort Ver­wand­te hat. Deutsch­land schiebt ihn nach Grie­chen­land ab, Grie­chen­land in die Tür­kei, und von dort wird er ver­mut­lich wei­ter abge­scho­ben. Die­se Ket­ten­ab­schie­bun­gen wider­spre­chen ganz klar dem Völ­ker­recht und gefähr­den das Fun­da­ment des euro­päi­schen Asyl­sys­tems als solches.

(er)

Yio­ta Massou­ri­dou ist Rechts­an­wäl­tin in Athen und Exper­tin für Migra­ti­ons­recht. Sie ist Gene­ral­se­kre­tä­rin der Euro­päi­schen Demo­kra­ti­schen Anwäl­tin­nen (EDA) und Teil des Teams von Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA), dem PRO ASYL-Part­ner in Grie­chen­land.