07.12.2022
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EU-Kommissarin Ylva Johansson spricht im November 2022 zur Aufnahme von Rumänien, Bulgarien und Kroatien in den Schengenraum. Foto: picture alliance / EPA / Stephanie Lecocq

Auf dem EU-Innenministertreffen soll Kroatiens Schengen-Beitritt beschlossen werden. Eine Zustimmung von Bundesinnenministerin Faeser würde das Versprechen des Koalitionsvertrags brechen, Pushbacks an den EU-Außengrenzen zu beenden. Das Centre for Peace Studies und PRO ASYL fassen die Menschenrechtsverletzungen an Kroatiens Grenzen zusammen.

Auf dem EU-Innenminister*innentreffen am 8. und 9. Dezem­ber steht die Abstim­mung über den Bei­tritt Kroa­ti­ens in den Schen­gen-Raum, der letz­te Schritt in dem Auf­nah­me­ver­fah­ren, auf der Tages­ord­nung. Im Fal­le einer Zustim­mung könn­ten ab dem 1. Janu­ar 2023 die ers­ten Grenz­kon­trol­len zu ande­ren Schen­gen-Staa­ten wegfallen.

Par­al­lel zu dem Auf­nah­me­pro­zess wur­den in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer wie­der Berich­te über Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und extre­me Poli­zei­ge­walt gegen Schutz­su­chen­de an den kroa­ti­schen EU-Außen­gren­zen öffent­lich. Akti­vis­ti­sche Netz­wer­ke, Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, inter­na­tio­na­le Medi­en und zwi­schen­staat­li­che Orga­ni­sa­tio­nen und Schutz­su­chen­de selbst haben seit 2016 fort­lau­fend ille­ga­le Grenz­schutz­maß­nah­men dokumentiert.

Par­al­lel zu dem Auf­nah­me­pro­zess wur­den Berich­te über Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und extre­me Poli­zei­ge­walt gegen Schutz­su­chen­de an den kroa­ti­schen EU-Außen­gren­zen öffentlich.

Bericht: Systematische Menschenrechtsverletzungen an Kroatiens Grenzen 

Die­se Chro­nik der Gewalt haben nun die kroa­ti­sche NGO Cent­re for Peace Stu­dies und PRO ASYL in dem gemein­sa­men Bericht »Sys­te­ma­ti­sche Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an Kroa­ti­ens Gren­zen« zusam­men­ge­fasst. Die Orga­ni­sa­tio­nen zeich­nen nach, dass seit eini­gen Jah­ren Push­backs das Fun­da­ment des kroa­ti­schen Grenz­schut­zes bilden.

Für Kroa­ti­ens Schen­gen-Bei­tritt beschränkt die EU-Kom­mis­si­on ihre For­de­run­gen an die kroa­ti­sche Regie­rung auf die Ein­rich­tung eines unab­hän­gi­gen Men­schen­rechts­be­ob­ach­tungs­me­cha­nis­mus. Der Geschich­te und der Unzu­läng­lich­keit des bis­he­ri­gen »unab­hän­gi­gen Beob­ach­tungs­me­cha­nis­mus« in  Kroa­ti­en wid­met der Bericht ein eige­nes Kapitel.

Auch weil die Ein­satz­kräf­te kei­ne Kon­se­quen­zen zu befürch­ten haben, wer­den die Push­backs mit extre­mer Bru­ta­li­tät durch­ge­führt – auch, um Schutz­su­chen­de von wei­te­ren Grenz­über­trit­ten abzu­schre­cken. Eine Fall­stu­die über einen Push­back im Okto­ber 2020 an der kroa­tisch-bos­ni­schen Gren­ze ver­deut­licht die Gewalt­ex­zes­se, die die­se ille­ga­le Pra­xis der kroa­ti­schen Ein­satz­kräf­te anneh­men kann.

Pushbacks und Misshandlungen: Schritt für Schritt in den Schengen-Raum

Trotz der umfas­send beleg­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen ging die Schen­gen-Auf­nah­me Kroa­ti­ens unge­hin­dert vor­an. Ein Rück­blick: Die EU-Kom­mis­si­on gab im Okto­ber 2019 ihr »grü­nes Licht«, obwohl sich die Berich­te über Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an den kroa­ti­schen Gren­zen bereits häuf­ten. Die EU-Innenminister*innen ver­stän­dig­ten sich auf dem Rats­tref­fen im Dezem­ber 2021, obwohl Kroa­ti­en kurz zuvor von dem Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te wegen eines Push­backs ver­ur­teilt wur­de, bei dem ein sechs­jäh­ri­ges Mäd­chen ums Leben gekom­men war.

Zuletzt stimm­te das Euro­pa­par­la­ment im Novem­ber 2022 mit gro­ßer Mehr­heit für den Bei­tritt, obwohl die Push­backs und Miss­hand­lun­gen in Kroa­ti­en weder per­so­nel­le oder struk­tu­rel­le Kon­se­quen­zen nach sich gezo­gen haben noch juris­tisch auf­ge­ar­bei­tet wurden.

Die EU-Kom­mis­si­on bekräf­tig­te im Novem­ber 2022 ihre Unter­stüt­zung von Kroa­ti­ens Auf­nah­me in den Schen­gen-Raum. In ihrer Erklä­rung lobt sie expli­zit die Erfül­lung ihrer For­de­rung nach Ein­rich­tung eines »unab­hän­gi­gen Beob­ach­tungs­me­cha­nis­mus« durch die kroa­ti­sche Regie­rung. Dabei war der bis­he­ri­ge Mecha­nis­mus eine Far­ce und bie­tet nur noch mehr Grün­de, dem kroa­ti­schen Innen­mi­nis­te­ri­um gegen­über skep­tisch zu sein.

»Unabhängiger Beobachtungsmechanismus« in Kroatien nur ein Feigenblatt 

Schon beim Halb­jah­res­be­richt des Beob­ach­tungs­me­cha­nis­mus gab es einen pein­li­chen Zwi­schen­fall für die kroa­ti­sche Regie­rung. Eine Arbeits­ver­si­on des Berichts wur­de am 3. Dezem­ber 2021 auf der Web­site des Gesund­heits­mi­nis­te­ri­ums hoch­ge­la­den und einen Tag spä­ter wie­der her­un­ter genommen.

Am 10. Dezem­ber wur­de der offi­zi­el­le Bericht auf der Web­site des Innen­mi­nis­te­ri­ums ver­öf­fent­licht – mit geschön­ten Anga­ben, wie das Cent­re for Peace Stu­dies zeigt: In der Arbeits­ver­si­on vom 3. Dezem­ber hieß es, dass die Poli­zei »ille­ga­le Abschre­ckungs­maß­nah­men (Push­backs)« aus­ge­führt habe. In der end­gül­ti­gen Ver­si­on waren dar­aus »zuläs­si­ge Abschre­ckungs­maß­nah­men« gewor­den, nur in eini­gen minen­ver­däch­ti­gen Gebie­ten habe es in Ein­zel­fäl­len Push­backs gege­ben. Das Cent­re for Peace Stu­dies fasst die Unter­schie­de iro­nisch zusam­men: »In der ers­ten Dezem­ber­wo­che wur­den Push­backs durch­ge­führt, in der zwei­ten Woche nur noch in minen­ver­däch­ti­gen Gebie­ten und in Einzelfällen.«

Nach Ver­öf­fent­li­chung des ers­ten Jah­res­be­richts am 1. Juli 2022 hat das Cent­re for Peace Stu­dies erneut des­sen struk­tu­rel­le Unzu­läng­lich­kei­ten her­aus­ge­ar­bei­tet: Der Mecha­nis­mus ist inef­fek­tiv, da dar­in kei­ne unan­ge­kün­dig­ten Kon­troll-Mis­sio­nen an die »grü­ne Gren­ze« vor­ge­se­hen sind, wo Push­backs in der Regel durch­ge­führt werden.

Anfang Novem­ber 2022 ver­öf­fent­lich­te die kroa­ti­sche Regie­rung die Ver­ein­ba­rung für einen neu­en Beob­ach­tungs­me­cha­nis­mus. Nun sol­len auch unan­ge­kün­dig­te Kon­troll-Mis­sio­nen an die »grü­ne Gren­ze« mög­lich sein. Ange­sichts der bis­he­ri­gen Geschich­te des soge­nann­ten unab­hän­gi­gen Beob­ach­tungs­me­cha­nis­mus in Kroa­ti­en gibt es gro­ße Zwei­fel, ob die­ser neue Mecha­nis­mus in der Pra­xis durch­set­zungs­fä­hig sein wird.

Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen sind bes­tens doku­men­tiert. Wor­an es man­gelt: juris­ti­sche und poli­ti­sche Konsequenzen.

Zudem gibt es bereits ein Moni­to­ring der kroa­ti­schen Gren­ze: Zivil­ge­sell­schaft­li­che und zwi­schen­staat­li­che Orga­ni­sa­tio­nen haben die Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen bes­tens doku­men­tiert. Wor­an es jedoch man­gelt sind juris­ti­sche und poli­ti­sche Kon­se­quen­zen. Dabei ist eine effek­ti­ve Straf­ver­fol­gung eine not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung für die prä­ven­ti­ve Wir­kung, die ein unab­hän­gi­ger Men­schen­rechts­be­ob­ach­tungs­me­cha­nis­mus ent­fal­ten soll.

Doch die EU-Insti­tu­tio­nen ver­trau­en trotz allem wei­ter auf das kroa­ti­sche Innen­mi­nis­te­ri­um und damit auf ihre Stra­te­gie, den Bock zum Gärt­ner zu machen. Wie hin­ge­gen ein effek­ti­ver und unab­hän­gi­ger Men­schen­rechts­be­ob­ach­tungs­me­cha­nis­mus auf­ge­baut sein muss, haben Expert*innen, auch mit Unter­stüt­zung von PRO ASYL, im Mai 2022 in einer aus­führ­li­chen Stu­die vorgestellt.

Scholz: »Schengen ist eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union«

Ende August 2022 bekräf­tig­te auch Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz sei­ne Unter­stüt­zung für den Schen­gen-Bei­tritt Kroa­ti­ens und pries an der Karls-Uni­ver­si­tät zu Prag den Schen­gen-Raum: »Zu einer funk­tio­nie­ren­den Migra­ti­ons­po­li­tik gehört ein Außen­grenz­schutz, der wirk­sam ist und unse­ren recht­staat­li­chen Stan­dards gerecht wird. Der Schen­gen-Raum, das gren­zen­lo­se Rei­sen, Leben und Arbei­ten, steht und fällt mit die­sem Schutz. Schen­gen ist eine der größ­ten Errun­gen­schaf­ten der Euro­päi­schen Uni­on, und wir soll­ten sie schüt­zen und ausbauen.«

Rechts­staat­li­che Stan­dards im kroa­ti­schen Außen­grenz­schutz? Die Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen igno­riert Scholz komplett.

Rechts­staat­li­che Stan­dards im kroa­ti­schen Außen­grenz­schutz? Die Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen igno­riert Scholz kom­plett. Dabei heißt es im Koali­ti­ons­ver­trag der Ampel-Regie­rung: »Wir wol­len die ille­ga­len Zurück­wei­sun­gen und das Leid an den Außen­gren­zen been­den.« Ob die­sen Wor­ten Taten fol­gen, wird sich auch anhand von Bun­des­in­nen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­sers Abstim­mungs­ver­hal­ten auf dem Rats­tref­fen am mor­gi­gen Don­ners­tag zeigen.

(dm)