24.06.2021

Afgha­ni­stan wird in Win­des­ei­le von den Tali­ban erobert. Deutsch­land muss jetzt sei­ner Ver­ant­wor­tung gerecht wer­den und die zuge­sag­te Auf­nah­me der Orts­kräf­te sofort in die Tat umset­zen. Sonst könn­te für vie­le jede Hil­fe zu spät kommen.

Die Ereig­nis­se in Afgha­ni­stan über­schla­gen sich: die Tali­ban sind auf dem Vor­marsch und wei­ten ihre Macht im Land gewalt­sam aus. Die Bun­des­wehr wird Afgha­ni­stan bis Ende Juni  ver­las­sen. Des­halb ist jetzt eine sofor­ti­ge Eva­ku­ie­rung der Orts­kräf­te und wei­te­rer gefähr­de­ter Per­so­nen not­wen­dig. Es geht dar­um, Men­schen zu ret­ten, die für deut­sche Behör­den und Insti­tu­tio­nen tätig waren oder sind. Um sie in Sicher­heit zu brin­gen, müss­ten umge­hend auch mili­tä­ri­sche Trans­port­flug­zeu­ge ein­ge­setzt wer­den. „Jetzt sind Schnel­lig­keit und unbü­ro­kra­ti­sche Ver­fah­ren gefragt – es kommt auf jeden ein­zel­nen Tag an. Denn wenn die betrof­fe­nen Men­schen den Wett­lauf gegen die Tali­ban ver­lie­ren, kann dies für sie den Tod bedeu­ten. Die Bun­des­wehr muss gemein­sam mit den deut­schen Soldat*innen auch die Orts­kräf­te aus­flie­gen“, sagt Gün­ter Burk­hardt, Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL. Vor­bil­der hier­für gibt es in der Geschich­te, wenn auch in ande­rer Grö­ßen­ord­nung: Im April 1975, in den letz­ten Tagen des Viet­nam­krie­ges, eva­ku­ier­ten die Ame­ri­ka­ner tau­sen­de Sol­da­ten, aber auch süd­viet­na­me­si­sche Zivilist*innen mit Flug­zeu­gen und Hub­schrau­bern aus Saigon.

Seit Beginn des NATO-Trup­pen­ab­zugs Anfang Mai haben die Tali­ban bereits 50 Bezir­ke (von ins­ge­samt etwa 400)  neu erobert. Der afgha­ni­sche Nach­rich­ten­dienst Tolo­news spricht sogar von 60 Bezir­ken, die seit­her in die Hän­de der Tali­ban gefal­len sind oder aktu­ell umkämpft sind. Und die Ent­wick­lun­gen neh­men Fahrt auf: in nur 24 Stun­den sind min­des­tens 8 wei­te­re Bezir­ke erobert wor­den (Stand: 22.06.2021). Beson­ders besorg­nis­er­re­gend sind Nach­rich­ten loka­ler Medi­en sowie eines Spre­chers des afgha­ni­schen Ver­tei­di­gungs­min­sis­ters, dass Tali­ban­kämp­fer bereits bis zu eini­gen Pro­vinz­haupt­städ­ten vor­ge­rückt sind, dar­un­ter auch Mazar-i-Sha­rif. Von dem durch die Bun­des­wehr betrie­be­nen Camp Mar­mal sind die Tali­ban aktu­ell nur noch 20 Kilo­me­ter ent­fernt. Mitt­ler­wei­le sind mit Talo­qan, Kun­dus, Bagh­lan und Mazar-i-Sha­rif gleich meh­re­re grö­ße­re Städ­te fak­tisch von Tali­ban-Kräf­ten eingekreist.

Die ange­kün­dig­ten Orts­kräf­te­bü­ros wur­den noch nicht eröffnet

Selbst­be­wusst haben die Tali­ban ver­kün­det, dass sie nach Abzug der Trup­pen ein „ech­tes isla­mi­sches Sys­tem“ ein­füh­ren möch­ten – alle Zei­chen wei­sen dar­auf hin, dass sie sich die Macht im Land durch Gewalt zurück­ho­len. Dass die Tali­ban trotz Prä­senz der inter­na­tio­na­len Kräf­te bereits mit einer gewalt­sa­men Macht­über­nah­me begon­nen haben, ist nach dem 20-jäh­ri­gen Ein­satz ein Schlag ins Gesicht der NATO.  Die Regie­rungs­kräf­te, die die Bevöl­ke­rung mitt­ler­wei­le zum bewaff­ne­ten Wider­stand gegen die Tali­ban auf­ru­fen, haben die Situa­ti­on längst nicht mehr unter Kon­trol­le. Ein bal­di­ger Zusam­men­bruch der staat­li­chen Struk­tu­ren ist ein eben­so erschre­cken­des wie mög­li­ches Sze­na­rio. Was dies für Män­ner und Frau­en bedeu­tet, die mit Deut­schen zusam­men­ge­ar­bei­tet haben, erklärt eine ehe­ma­li­ge afgha­ni­sche Orts­kraft im Inter­view mit PRO ASYL: Die gesam­te Fami­lie ist in Lebens­ge­fahr. Ent­füh­run­gen, gewalt­sa­me Über­grif­fe – selbst auf min­der­jäh­ri­ge Kin­der – sowie Fol­ter sind an der Tagesordnung.

Schon jetzt besteht fak­tisch kein Zugang für Betrof­fe­ne zum Auf­nah­me­pro­gramm für Orts­kräf­te. Es ist nicht öffent­lich nach­zu­voll­zie­hen, woher die bereits 400 geleis­te­ten Zusa­gen für das Auf­nah­me­pro­gramm her­rüh­ren. Doch auch für die­sen begüns­tig­ten Per­so­nen­kreis wird es nahe­zu unmög­lich sein, selbst­stän­dig Flug­ti­ckets außer Lan­des zu orga­ni­sie­ren, geschwei­ge denn sicher den Flug­ha­fen Kabul zu errei­chen. Vie­le Über­land­stra­ßen sind teils für län­ge­re Zeit­räu­me unter Kon­trol­le der Extre­mis­ten. Infor­ma­tio­nen, wie sich Betrof­fe­ne für das Pro­gramm regis­trie­ren kön­nen, sind nach wie vor nicht öffent­lich zugäng­lich. Auch die für Juni ange­kün­dig­ten Orts­kräf­te­bü­ros in Mazar-i-Sha­rif und Kabul schei­nen noch nicht ein­mal eröff­net zu haben, wie unter ande­rem einem Rund­schrei­ben der Grü­nen-Abge­ord­ne­ten Lui­se Amts­berg und Filiz Polat zu ent­neh­men ist.

Zwei­jah­res­frist fällt – posi­ti­ves Signal von der Innenministerkonferenz

Dass die Innen­mi­nis­ter­kon­fe­renz ver­gan­ge­ne Woche die For­de­run­gen von PRO ASYL zum Orts­kräf­te­pro­gramm auf­ge­grif­fen hat, war ein wich­ti­ges Zei­chen für all die Betrof­fe­nen, die bis­lang nicht berück­sich­tigt wur­den. Kon­kret han­delt es sich um die Auf­he­bung der „Zwei-Jah­res-Frist“ (künf­tig sol­len auch Orts­kräf­te Zugang zum Auf­nah­me­pro­gramm haben, die seit 2013 für deut­sche Insti­tu­tio­nen tätig waren), die Berück­sich­ti­gung auch bereits voll­jäh­rig gewor­de­ner Kin­der, die Mög­lich­keit des „visa on arri­val“ sowie die Anre­gung, Rei­se­kos­ten zu über­neh­men. Auf­grund der sich immens ver­schlech­tern­den Sicher­heits­la­ge muss jedoch zusätz­lich Sor­ge getra­gen wer­den, dass der Zugang zum Pro­gramm sowie die Aus­rei­se aus Afgha­ni­stan für die Betrof­fe­nen gewähr­leis­tet wird. Denn füh­ren die Tali­ban ihre Offen­si­ven in der­sel­ben Geschwin­dig­keit fort wie bis­her, so kom­men die beschlos­se­nen und abso­lut not­wen­di­gen Nach­bes­se­run­gen des Orts­kräf­te­pro­gramms für vie­le Men­schen zu spät.

Täg­lich gehen in der Bera­tungs­stel­le von PRO ASYL zahl­rei­che Anfra­gen von gefähr­de­ten Afghan*innen ein. Vie­len von ihnen gelingt es nicht, den Kon­takt zu ihren (ehe­ma­li­gen) Vor­ge­setz­ten her­zu­stel­len, um dort ihre Gefähr­dungs­an­zei­ge ein­zu­rei­chen. Sie füh­len sich im Stich gelas­sen und leben in per­ma­nen­ter Gefahr.

Noch immer gilt, dass afgha­ni­sche Orts­kräf­te gegen­über deut­schen Behör­den erst dar­le­gen müs­sen, dass sie gefähr­det sind, bevor sie über­haupt die Chan­ce auf eine Aus­rei­se haben. Bünd­nis 90/ Die Grü­nen schlug vor, die­se Beweis­last umzu­keh­ren und zudem ein Grup­pen­ver­fah­ren zur groß­zü­gi­gen Auf­nah­me afgha­ni­scher Orts­kräf­te ein­zu­füh­ren. Der Bun­des­tag hat am Mitt­woch den 23. Juni 2021 die­sen Antrag mehr­heit­lich abge­lehnt. Die Koali­ti­ons­frak­tio­nen und die AfD lehn­ten den Antrag ab, die FDP ent­hielt sich, die Links­frak­ti­on stimm­te mit den Grü­nen dafür.

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