US-Präsident Joe Biden hat den vollständigen Rückzug der US-amerikanischen Streitkräfte aus Afghanistan angekündigt. Spätestens bis zum 11. September 2021 – dem 20. Jahrestag der Terrorangriffe auf die USA – soll er stattgefunden haben, sagte Biden: "Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden." Die Nato zog nach und gab nach einer Videokonferenz der Außen- und Verteidigungsminister bekannt, das Ende ihres Einsatzes in Afghanistan einzuleiten. Die 30 Bündnisstaaten hätten entschieden, mit dem Abzug aus dem Land zu beginnen.

Die USA werden ihren längsten Krieg beenden, Afghanistan jedoch vermutlich in einem noch viel schlimmeren Chaos hinterlassen: Experten gehen von weiterer Gewalt und schweren Folgen für das zentralasiatische Land aus. Ein Friedensabkommen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban scheint immer ferner; nun verweigern die radikalen Islamisten auch einen internationalen Dialog.

Letztes Jahr im Februar haben die Taliban ein gemeinsames Abkommen mit den USA unterzeichnet, das zu direkten Gesprächen zwischen den Militanten und der afghanischen Regierung führen sollte. Seit Monaten ziehen sich diese Verhandlungen zwischen den afghanischen Parteien nun hin, bis jetzt ohne Ergebnis und weiterhin ohne Waffenstillstand. Täglich kämpfen Taliban und Regierung in fast allen 34 afghanischen Provinzen gegeneinander. 

Der bedingungslose Abzug könnte zu Gewalt führen

Eine von der Türkei organisierte Konferenz sollte alle Parteien – die Taliban, die USA, die afghanische Regierung und auch die UN – gemeinsam an einen Tisch bringen, um den Weg zum Frieden langfristig zu ebnen. Aber die Taliban sagten ab. "Das Islamische Emirat wird an keiner Konferenz teilnehmen, die Entscheidungen über Afghanistan treffen soll, solange sich nicht alle ausländischen Streitkräfte aus unserer Heimat zurückgezogen haben", schrieb Taliban-Sprecher Mohammad Naeem auf Twitter. Die US-Regierung unter dem früheren Präsidenten Donald Trump hatte im vergangenen Jahr versprochen, die Truppen bereits bis zum 1. Mai abzuziehen. Nun erfolgt der Abzug erst einige Monate später.

Konditionen – wie beispielsweise einen Waffenstillstand und eine Minderung der momentan weit verbreiteten Gewalt – für den Abzug soll es nach US-Angaben dafür nicht geben. Eine Entscheidung, die auch in Washington für Bedenken sorgt. Senator Jim Inhofe, der höchstrangige Republikaner im Verteidigungsausschuss des Senats, stufte Bidens Entscheidung als gefährlich und rücksichtslos ein. "Niemand will einen ewigen Krieg, aber ich habe immer wieder gesagt, dass jeder Rückzug auf Bedingungen basieren muss", sagte Inhofe. "Willkürliche Fristen würden unsere Truppen wahrscheinlich in Gefahr bringen, Fortschritte gefährden und zu einem Bürgerkrieg in Afghanistan führen."

Die Taliban ließen bereits bemerken, dass ein Abzug nach dem versprochenen 1. Mai zu Gewalt führen könnte, was afghanische sowie auch internationale Truppen in größere Gefahr bringen würde: "Wenn ausländische Streitkräfte unser Land nicht zum festgelegten Zeitpunkt verlassen, werden sich die Probleme sicherlich verschärfen", drohte ein weiterer Sprecher auf Twitter. Gleichzeitig haben viele der alten afghanischen Warlords bereits aufgerüstet. Dass der verspätete und dafür bedingungslose Rückzug tatsächlich zu einem Bürgerkrieg oder der gewaltsamen Machtergreifung der Taliban führen könnte, ist nicht auszuschließen.